Blick ins Archiv: Eine Frage der Technik – Ruhm und Tücken früher Fernwärme

„Als wir uns auf dem Rathaus nicht mehr anders zu helfen wussten und guter Rat wieder einmal teuer war, als beim Vergleich der mutmaßlichen Einnahmen und Ausgaben die teure Kohle einem immer wieder einen Strich durch die Rechnung machte (...) – da sind wir unter die Entdecker gegangen“, sagte Tübingens Oberbürgermeister Hermann Haußer bei der Eröffnung des Uhlandbads im Juli 1914. Von was für einer Entdeckung spricht er da? In der Tat hatte sich in Tübingen Bahnbrechendes getan ...

Lang galt das heiß ersehnte Stadtbad als zu kostspielig. Bis sich eine geniale Lösung fand: eine kostensparende Wärmequelle. Die „Gasanstalt“ im Eisenhut sollte das Badewasser des künftigen Uhlandbads erwärmen. Otto Henig, Betriebsleiter der städtischen Werke und ein „echtes Käpsele“, hatte ab 1910 zusammen mit Gasmeister Michael Fauner experimentiert, wie sich die Abwärme der Gasöfen zur Warmwasserbereitung nutzen ließe - mit Erfolg. „Von maßgebenden Fachmännern nachgeprüft taten sie dar, dass – ohne jede Beeinträchtigung des Gaserzeugungsprozesses und ohne Mehraufwand an Heizmaterial – eine für den Betrieb völlig genügende Menge von Heißwasser gewonnen und der Badeanstalt zugeführt werden könne“, heißt es in der Eröffnungsschrift des Uhlandbads. Die „Fernwarmwasserleitung“ machte Kesselhaus, Kamin und Kohlen überflüssig und würde die Betriebskosten ganz erheblich verringern, so dass „ein nennenswerter laufender Zuschuss für die Anstalt voraussichtlich nicht nötig sein werde“.

Die Fernwarmwasserleitung - Innovation made in Tübingen

Fernwärmeversorgung ist heute ein alter Hut, doch vor 100 Jahren war sie eine sensationelle Innovation. Seit 1908 gab es das 2. Tübinger Gaswerk im Eisenhut, heute Standort der Stadtwerke-Verwaltung. Hier wurde „Stadtgas“ aus Steinkohle erzeugt. Die Kohle wurde in Retortenöfen unter Luftabschluss auf ca. 700 °C erhitzt und setzte dabei Gas frei, das gereinigt und im Gasometer gesammelt wurde. Zurück blieb Koks, das zur Entnahme erst wieder abkühlen musste - entsprechend änderte sich die Temperatur der Retorten. Nun durfte die Gasbereitung durch die Anlagen zur Warmwassererzeugung keinesfalls gestört werden. Henig installierte dazu Rohrschlangen in den letzten Feuerzügen und entlang der Ofenrückwand, durch die Wasser floss und dabei die Wärme aufnahm. Eine elektrisch gesteuerte Pumpe sorgte dafür, dass sich die Fließgeschwindigkeit der Ofentemperatur anpasste, um die Wärme optimal auszunutzen. Über einen Wärmetauscher wurde das vor Ort in einem Brunnen geförderte Badewasser auf etwa 50°C erhitzt.

Eine 1,7 km lange Leitung sollte das Wasser zum Uhlandbad befördern. Um das geeignete Material dafür zu finden, hatte Henig im Gaswerk eine kleine Versuchsanlage errichtet, die 1,5 Jahre in Betrieb war. Es stellte sich heraus, dass feuerverzinkte Stahlröhren dem warmem Wasser am besten standhielten. Diese 80 mm weiten Rohre wurden 1,5 m unter Straßenniveau in einem Zementkanal verlegt. Geteert und mit Dachpappe isoliert betrug der Wärmeverlust auf dem Weg nur 1,2°C. Die Fernleitung mündete im Uhlandbad in einen Sammelbehälter unter dem Schwimmbecken. Dort wurde es mit Wasser aus einem Brunnen beim Bad selbst gemischt. Die Menge genügte, um täglich 1/20 des Schwimmbeckeninhalts auszutauschen und das gesamte Becken dreimal pro Woche frisch zu befüllen.

„Zur Nachahmung empfohlen“

Ganz neu war die Idee der Fernwärme nicht: Heißen Dampf nutzte man schon andernorts zum Heizen, in Berlin-Spandau hatte kurz zuvor eine Badeanstalt mit Fernwarmwasserleitung eröffnet. Neu war aber das Verfahren, die Wärme der Gasöfen so effizient zu nutzen. Dies stieß auf reges Interesse: Bereits 1913, das Uhlandbad war noch eine Baustelle, hatte Werksleiter Henig seine Erfindung auf der hygienischen Ausstellung in Stuttgart präsentiert. Auch außerhalb des Schwabenlands sorgte er für Aufsehen. Ausführliche Artikel über das Uhlandbad erschienen im Gasjournal und in der Berliner Städte-Zeitung sowie in der Zeitschrift für Deutsches Bade- und Kurwesen. 1925 schrieb die Deutsche Gesellschaft für Volksbäder in einem Sonderdruck: „Eine derartige Betriebsverbindung von Gaswerk und Volksbad verdient hohe Beachtung und kann zur Nachahmung nicht dringend genug empfohlen werden.“

Bald trafen zahlreiche Anfragen aus dem In- und Ausland in Tübingen ein. Das Stadtwerke-Archiv bewahrt einen ganzen Berg Dokumente zum Thema, darunter über 100 Zuschriften aus ganz Deutschland, aus Schweden (Landskrona), Utrecht, Breslau und aus Schweizer Städten, die sich nach den Erfahrungen in Tübingen erkundigten. Einige Interessenten, wie die Gebrüder Sulzer aus Winterthur, vereinbarten gleich Besichtigungstermine.

Die Rechnung ging auf

Laut Rechenschaftsbericht erzielte das Uhlandbad 1914/15 einen „durchaus erfreulichen“ Überschuss von 6.700 Mark. Bis Anfang der 1930er Jahre trägt sich der Badebetrieb selbst. 1928 schrieb Henig: „(...) nur durch das Vorhandensein der Warmwasser-Fernversorgung wurde Tübingen eines der wenigen, vielleicht das einzige Bad an Orten der Größe Tübingens, das kein Zuschussbetrieb ist, sondern sich vollständig selbst trägt und dazu noch, trotz der Inflation, ganz beachtliche Rücklagen machen konnte.“

Der Pionier Otto Henig, der von 1904 bis 1938 die Entwicklung der Stadtwerke vorantrieb und schon an der Entstehung des Neckarkraftwerks und des Gaswerks im Eisenhut beteiligt war, plante parallel eine gleislose Stadtbahn für Tübingen (zu der es nicht kam) und realisierte in den 20er-Jahren ein modernes Speicherkraftwerk auf dem Österberg. Dem Uhlandbad kam seine Fernwarmwasserleitung bis 1949 zugute. Sein Plan, noch weitere städtische Gebäude mit Fernwärme zu heizen, wurde allerdings erst Jahrzehnte später in die Realität umgesetzt.

Eine zweite Leitung und Tücken der Technik

Mitte der Zwanzigerjahre, als die Besucherzahlen im Uhlandbad die 100.000er-Marke überstieg, kam es hin und wieder zu technischen Probleme mit der Warmwasserzufuhr, der Kesselanlage oder der Wasserqualität. Das Gesundheitsamt schrieb Entkalken und Chlorieren des Badewassers vor. Eine moderne Umwälz- oder Filteranlage gab es damals freilich noch nicht. Der Wasserbedarf - allein drei ganze Beckenfüllungen pro Woche - war für heutige Verhältnisse immens! Im März 1928 beschloss der Gemeinderat, zur Unterstützung der Warmwasserversorgung eine zweite Fernwärmeleitung vom Elektrizitätswerk beim Neckarstauwehr her zu bauen, wo man gerade eine neue Dieselmaschine zur Stromerzeugung aufgestellt hatte. Nun konnte man das warme Wasser öfter wechseln - ohne auch nur „einen Pfennig Unkosten“.

Laut einer Aktennotiz hatte es wohl kritische Stimmen gegeben, die an der modernen Wärmeversorgung zweifelten. Dieser „Ansicht irgendwelcher Kreise“ trat Henig vehement entgegen und legte dar, „dass gerade das Vorgehen Tübingens bahnbrechend auf dem Gebiet des Badwesens wirkt, dass wir im Laufe der Jahre viele Hundert Anfragen in dieser Richtung bekamen und dass viele Neuanlagen auf Grund unserer Gedankengänge ausgeführt wurde. Ja selbst in kleineren Ortschaften in unserer unmittelbaren Nachbarschaft – ich erinnere an Mössingen und an Herrenberg – wurde es möglich, auf Grund unserer Resultate ihrer Bevölkerung die Wohltat von Badeeinrichtungen zu vermitteln, ohne dass dabei die Gemeinden in finanzielle Belastung kamen.“

In den 30er Jahren schwächelte die Technik. Das warme Wasser im Sammelbehälter kühlte stark ab, besonders bei hohem Wasserstand des Neckars. Die Druckverhältnisse und Temperaturen in der Fernleitung schwanken stark, teils weil Feuchtigkeit die Isolierung beschädigt hatte, teils aus Unachtsamkeit im Gaswerk, wo zur Kontrolle ein selbstschreibendes Thermometer aufgestellt wurde. Außerdem stellte sich heraus, dass im Gaswerk ein Teil des Warmwassers für die Waschgelegenheiten der Arbeiter abgezweigt wurde. Ein Gutachten der Wirtschaftsberatung Aktiengesellschaft Berlin vom August 1943 über die Bewertung der Warmwasserlieferung, erwähnt, dass die erzielte Wassertemperatur vor allem im Winter bald nicht immer ausreichend war und im Gaswerk durch Beidampfen mit Koks auf die erforderliche Höhe gebracht werden musste. Und längst überstiegen die Betriebskosten die Einnahmen: 1937 was erstmalig ein Zuschuss von 365 DM fürs Uhlandbad fällig geworden, ab da musste die Stadt immer höhere Summen beisteuern.

Das Ende der billigen Wärmequelle

Im Zweiten Weltkrieg war die Nutzung des Uhlandbads nur eingeschränkt möglich, 1944 musste es ganz schließen. 1946 wurde der Betrieb langsam wieder aufgenommen, zunächst nur für die Angehörigen der Besatzungsmacht. Dass die Militärregierung 1947 für Vereine und Schulen Schwimmzeiten freigab, nützte wenig, da kein Heizmaterial aufzutreiben war. Auch reichte das warme Wasser vom Gaswerk nicht mehr aus. Schon in den Jahren vor dem Krieg musste zusätzlich „beigedampft“ werden; jetzt stand nur noch die Abwärme aus zwei Retortenöfen zur Verfügung, die mit 60 m³ nicht einmal die Hälfte der notwendigen Wassermenge erwärmen konnte. Auch hatte sich gezeigt, dass der Betrieb der Heizschlangen auf Dauer die Öfen beschädigte. Die Fernwärmeleitung war an manchen Stellen undicht geworden und auch wegen der geringeren Durchflussmenge erhöhte sich der Wärmeverlust auf 7 bis 10°C. Man konnte das Beckenwasser nicht mehr oft genug zu wechseln und die hygienischen Bedingungen waren katastrophal. Eine Filteranlage war dringend notwendig: Neben der Reinigung des Wassers würden sich damit erhebliche Wassermengen einsparen lassen. 

Da sich die Stilllegung des Tübinger Gaswerks abzeichnete, plante man langfristig eine Kesselanlage im Uhlandbad selbst. Doch die Industrie war nicht lieferfähig und die Finanzlage schlecht. Um den Betrieb nicht zu unterbrechen, sollten vorübergehend Dampfkessel im Gaswerk zur Wassererwärmung dienen. Doch woher die Kohlen nehmen? Viele Schreiben der Stadtverwaltung an die verschiedensten Verwaltungsstellen und die Services militaires sind erhalten, die immer wieder die dringende Bitte um Kokszuteilung „im Interesse der Volksgesundheit“ äußern. Immer wieder standen die Badegäste vor verschlossenen Türen.

Im Lauf des Jahres 1949 ging es aufwärts: Wannen- und Brausebäder öffneten wieder die ganze Woche, die Schwimmbad zumindest an den meisten Nachmittagen. Die medizinischen Bäder und das Schwimmtraining der Vereine wurden wieder aufgenommen. Im Dezember 1949 konnte die Wasserreinigungsanlage in Betrieb gehen, die fortan dreimal täglich das Beckenwasser umwälzte und filterte, gleichzeitig wurde es in einer - in Abstimmung mit dem Hygiene-Institut bestellten - modernen Choranlage keimfrei gemacht. Im Juni 1950 waren die neuen Warmwasser- und Heizungsanlagen im Untergeschoss einsatzbereit. Mit der Umstellung der Technik war die Arbeit des Heizers umfangreicher geworden und machte eine zweite Kraft notwendig: Praktischerweise wohnte die direkt im Haus. Ab 1946 waren die beiden Dienstwohnungen im Uhlandbad an den Heizer Eugen Hipp mit seiner 5-köpfigen Familie (der auch noch 2 Studenten beherbergte) und den Bäderleiter Alfred Rampf, ebenfalls mit 3 Kindern, vermietet, die bis Mitte der 60er-Jahre hier wohnten. Das Gaswerk im Eisenhut arbeitete nun nicht mehr - Tübingen bezog Stadtgas von Reutlingen, 1971 erfolgte die Umstellung auf Erdgas.

Und heute?

Wärmetechnisch ist das einstige »Vorzeigebad« heute auf neuestem Stand: 1992 errichteten die Stadtwerke im Untergeschoss des Uhlandbads Tübingens erstes Blockheizkraftwerk. Mit hohem Wirkungsgrad wärmt es das Bad und speist zugleich Strom ins Netz ein. 2013 wurde es durch eine moderne, hocheffiziente Anlage ersetzt. Zusammen mit mehreren gasbetriebenen Heizkesseln, einige davon im Kepler-Gymnasium, produziert diese genug Wärme, um auch die Gebäude der Uhlandstraße zu versorgen. Und mit 2,5 Millionen Kilowattstunden im Jahr erzeugt das BHKW Strom, der für rund 625 Familienhaushalte reicht. Hier schließt sich der Kreis: Man ist zurückgekehrt zum Prinzip der Kraft-Wärme-Kopplung wie schon vor 100 Jahren, als Otto Henig die Fernwarmwasserleitung erfand.

Quellen

  • Bilder: Stadtwerke Tübingen
  • Gemeinderats-Protokolle 9.11.1912 und 23.05.1914;
  • Tübinger Chronik vom 25.07.1914
  • Eröffnungsschrift „Uhlandbad Tübingen“ 1914,
  • Carmen Palm, Wir wirken mit. 150 Jahre Stadtwerke Tübingen, 2012
  • Betriebsstatistiken und Dokumente zur Betriebsführung des Uhlandbads: Archiv Stadtwerke Tübingen